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Radreise durch Galizien und Rostotschien, August 2007

Von Reinhard Wilhelm


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Galizien wird dem Einen oder Anderen noch etwas sagen, meist im Zusammenhang mit jüdischen Familiengeschichten oder Romanen. Rostotschien wird kaum jemand kennen. Beide Gegenden liegen im Südosten Polens, an der Grenze zur Ukraine. Bei der Westverschiebung Polens am Ende des 2. Weltkriegs wurde Galizien geteilt. Ein Teil mit der Großstadt L’vov, ehemals Lemberg, liegt jetzt in der Ukraine.
Das Terrain war meist eben oder leicht hügelig. Der höchste Punkt war Arłamów, der Anfang unserer Tour. Aber den mussten wir nicht erklimmen. Denn dort wurden wir von Krakau mit dem Bus hin gefahren. Die längste Etappe war etwa 70km lang. Also, mit etwas Kondition waren alle Etappen machbar. Die Tour war organisiert von einer Krakauer Organisation, deren Namen zeigte, dass sie mit der Betreuung von Vogelkundlern begonnen hatte. Mit dem Buchen einer Gruppenreise geht man das Risiko ein, etliche Tage mit seltsamen Vögeln verbringen zu müssen. Die erste positive Überraschung war, dass unsere Gruppe außerordentlich angenehm war, angenehme Individuen in guter Zusammensetzung! Dass man schon ab dem zweiten Tag wirklich interessante Diskussionen führen konnte, kam unerwartet. Eine große Rolle spielten die unterschiedlichen Lebenserfahrungen von Ossies und Wessies, da beide Spezies vertreten waren.

Die Agentur vermietete uns Fahrräder, die wir noch in Krakau übernahmen, an unsere Anatomie anpassten und auf einen Fahrradanhänger verluden, damit sie mit uns in den polnischen Südosten verfrachtet würden. Die Fahrräder waren in Ordnung. Außer ein paar Platten und zwei Speichenbrüchen passierte nichts.
Die Agentur schickte uns auch einen Reiseleiter, Leopold, genannt Leo, der uns von Anfang an mit seinem Outfit, Hose bewusst unauffällig in Tarnfarben, Weste nicht zu übersehen in meist grüner Leuchtfarbe beeindruckte. Nach zwei Minuten Einführung hatte er uns militärisch knapp sein Signalvokabular vermittelt, Arme links, rechts, geradeaus oder hoch gestreckt oder über den Kopf gekreist, die ersteren selbsterklärend, letzteres für den nicht anzunehmenden Fall, dass wir uns verfahren sollten. Leo war äußerst kommunikativ, hatte einen erstaunlichen Vorrat an Witzen, nicht alle stubenrein, und eine profunde Kenntnis der polnischen Bierlandschaft. In diesem Bereich betrieb er auch intensive Weiterbildung. Seine Kommunikativität bewies er in zahlreichen Gesprächen am Straßenrand, in denen er Passanten nach dem Weg fragte. Die Passanten kannten allerdings eher typische Autorouten als Fahrrad-geeignete Wald- oder Feldwege.
Die radfahrerischen Herausforderungen waren, wie gesagt, eher mild. Schwieriger als von A nach B zu kommen war es A und B auszusprechen. Das Polnische liebt ja Zischlaute und hat sich einen großen Vorrat davon angelegt. Probieren Sie mal ‚Szczebrzeszyn’! Ich gebe Ihnen eine kleine Hilfestellung. Man fängt mit einem harmlosen ‚sch’ an, steigert sich zu einem ‚zsch’, schiebt ein ‚eb’ als Erholung ein, findet im ‚dsch’’ die Klimax und endet mit ‚eschen’ als einem milden Abgang wie bei einem guten Wein. Nach Szczebrzeszyn führte übrigens eine Tagestour von Zwierzyniec, nur damit Sie nicht aus der Übung kommen. Drei mal blieben wir zwei Nächte an einem Ort. Zwei mal machten wir Rundtouren, beide an den einzigen Regentagen, die wir hatten. Da konnte man auch mal kneifen. Verglichen mit dem Wetter zu hause hatten wir offensichtlich tolles Glück! Die Qualität der Hotels war sehr unterschiedlich. Der Start der Tour war in Arłamów, einem immer noch durch eine FLAK-Kanone gut gesicherten ehemaligen Erholungsheim für Partei- oder Gewerkschaftselite, welches soweit vom nächsten Ort abgelegen ist, dass man dort während des Kriegszustandes Lech Wałęsa zwei Jahre interniert hat. Jetzt dient es, gut renoviert, im Sommer Wanderern und Radfahrern und im Winter Skifahrern.
Vom hochgelegenen Arłamów fuhren wir ab durch einen wunderbaren Urwald in Richtung Przemyśl, ausgesprochen etwa ‚Pschemischl’, allerdings mit zwei stimmhaften ‚sch’. Das dortige Hotel war dann mrzerybl. Unser Zimmer hatte einen eigenartigen Zuschnitt, dafür war es verkehrsmäßig sehr gut erschlossen; Busse, LKWs und Ströme von PKWs schienen zwischen unseren Betten durchzufahren. Zum Thema Architektur selbst entworfener Bauten später mehr. Przemyśl ist sehr stark von der österreichischen kuk-Zeit geprägt. Ein heute noch sichtbarer Ring von Befestigungsanlagen mit 20km Durchmesser sollte vor den Russen schützen. Seine Struktur und insbesondere seine Schwachstellen wurden jedoch vom Oberst Redel gleich an die Russen verraten.
Von Przemyśl fuhren wir nach Jarosław mit seinem imposanten Rathaus. Dort g ab es ehemals ein großes jüdisches Stetl, von dem allerdings fast nichts mehr übrig ist. Auf dem jüdischen Friedhof liegt Rabbi Elimelech, einer der Väter der chassidischen Bewegung. Sein Grab ist jedes Jahr an seinem Todestag Pilgerstätte von Tausenden von Chassiden aus aller Welt. Eigentlich hatten alle Städte, die wir besucht haben, vor der deutschen Besetzung große jüdische Bevölkerungsanteile. Davon ist fast nirgends mehr etwas zu sehen.
Nach dem Mittagessen in Jarosław fuhren wir weiter nach Sieniawa, übernachtungsmäßig der Höhepunkt der Tour. Das in einem großen wunderschönen Park gelegene Schloss ist privatisiert und in ein Hotel umgewandelt worden, sehr schön renoviert und geschmackvoll eingerichtet. Selbst unsere Fahrräder wurden auf Parkettboden geparkt! Von Sieniawa ging es nach Horyniec. Die Pension bot einerseits liebevolle Bemühungen um den Kaloriennachschub, andererseits den Tiefpunkt an Unterbringung. Bettwäsche und Klopapier schienen das gleiche Material zu sein, Bettwäsche 1. Wahl, Klopapier 2. Wahl. An Juck- und Kratzpotential waren sie äquivalent. Dazu zwei elende Kläffer hinter dem Haus, die neurotisch die Nacht zum Tag machten.
In Horyniec war ein Kurtag angesagt. Schwefelhaltige, warme Quellen haben zur Etablierung eines Kurorts geführt. Zwei riesige Kurzentren, eins für die polnische Bauernschaft, eins für die Allgemeinheit verzieren den Ortsrand. Unser Reiseleiter liefert uns zur Generalüberholung ab. Eine oberflächliche Musterung durch eine polnische Ärztin ergab bei mir keine offensichtlichen Schäden, so dass ich die Standardbehandlung bestehend aus klassischer Massage und schottischer Dusche verordnet bekam. Klassische Massage war der hartnäckige Versuch, mich durch den Spalt in der Massageliege hindurch zu kneten, aber was hatte ich unter einer schottischen Dusche zu verstehen? Eine Dusche ohne Wasser? Oder eine mit sehr schwachem Wasserdruck? Nein ganz das Gegenteil! Ich fand eine Installation vor, in der eine Wasserkanone auf eine Art Exekutionswand gerichtet war, ein durchaus furchterregender Anblick! Mit der jungen Frau, welche diese Kanone auf meinen zarten Körper richten wollte, ergab sich folgender Dialog:

Junge Frau (auf Polnisch): Ausziehen!
Ich (auf Deutsch): ?
Sie (auf Polnisch, in’s Off): der versteht nix.
Stimme aus dem Off (auf Deutsch): alles weg!.

Zur Beruhigung kann ich mitteilen, dass nach dem abwechselnd kalten und heißen Wasserbombardement doch nicht alles weg war. Komisch, weshalb komme ich jetzt auf die hübschen polnischen Mädchen und jungen Frauen? Alle schlank und herausgeputzt! Allerdings setzt irgendwann die wunderbare Fettvermehrung ein. Wohlstandspeck um jede reife weibliche Hüfte. In einem so katholischen Land hätte man ja eher eine wunderbare Brotvermehrung erwartet.
Von Horyniec ging es nach Tomaszów Lubelski, wo uns der reale Sozialismus erwischte. Unsere Ossies fühlten sich im Hotel wie zuhause. Einige Charakteristika der Hotelarchitektur waren wohl ostblockweit zu finden, z.B. überdimensionierte nutzlose Säle mit hässlicher, dunkler Deckentäfelung. Das interessanteste Überbleibsel aus dieser Zeit war der Zaun im Foyer, der den Gast zwang, die Herrschafts- und Kontrollsphäre der Rezeption zu durchlaufen, und ihn daran hinderte, direkt die Treppe zu seinem Zimmer zu nehmen. Dieses ziemlich trostlose Städtchen war eine typische Zwischenstation, die man auf Radtouren ab und zu einschieben muss. Der Ehrlichkeit halber muss man sagen, dass die Zimmer sehr gut renoviert waren, das Personal freundlich und das Essen gut war.
Von Tomaszów Lubelski ging es nach Zwierzyniec, einer ehemaligen Sommerresidenz der Fürstenfamilie Zamoyski, jetzt Sitz der Brauerei gleichen Namens. Übrig sind eine schöne Kirche ‚auf dem Wasser’, d.h. auf einer Insel im See, ein großer Naturpark rund um die Stadt und ein Streit zwischen den jetzigen Besitzern der Zwierzyniec-Brauerei und der Familie Zamoyski. Als Bildungsgut nahmen wir von Reiseleiter Leopold mit, dass ein geeigneter Präfix von Zwierzyniec mit der Bedeutung ‚Tier’ auch zur Bestellung eines Biers dienen kann.
Apropos Kirche, wir waren überrascht über den Kirchenbesuch. Klar hat man gehört, dass die Kirche in Polen einen großen Einfluss gehabt hat, vor kurzem noch von dem Einfluss von Radio Marya auf die Wahlen inklusive der Wahl der Kaczyński-Brüder und dem Schüren nationalistischer und antideutscher Stimmung. Aber gleichzeitig wird immer betont, dass seit dem Sturz des kommunistischen Systems der Einfluss der Kirche nachlässt, weil sie nicht mehr unbedingt als Klammer um die Opposition gebraucht wird. Wenn man dann Kirchen in Polen sieht, und sie sind schwer zu übersehen, dann fallen einem zwei Dinge auf. Erstens die vielen Neubauten, meist prächtig, teilweise architektonisch gewagt. Zweitens die Bankreihen auf dem Platz vor der Kirche. Man fragt sich, wofür die da stehen, vermutet, dass da im Freien mal gefeiert wird. Das Rätsel löst sich, wenn man sonntags an einer Kirche vorbei kommt, fast unabhängig von der Uhrzeit. Die Bänke sind besetzt mit Gläubigen, die nicht mehr in die Kirche passen. Der Gottesdienst wird nach draußen übertragen.
Von Zwierzyniec führte eine sehr schöne Tour durch eine wunderbare, weite und offene Landschaft nach Zamość. Hier trafen wir die ersten Früchte von EU-Bemühungen um den polnischen Straßenbau zu genießen, ein paar Kilometer Fahrradweg!
Vielleicht sollte ich hier ein paar Bemerkungen über den vorgefundenen Straßenzustand verlieren. Die Staaten des früheren Ostblocks hatten eine große Fertigkeit im Bau kunstvoll verzierter Straßenbelege entwickelt. Wie langweilig ist doch eine glatt vor einem liegende 2- oder sogar 4-spurige Straße mit einem höhenmäßig angeglichenen Seitenstreifen oder sogar mit einem getrennten Fahrradweg! Die Ostblockstraßenbauer brachten dagegen interessante Verzierungen an ihren Straßen an, eine Welle hier, eine Senke dort, ein Loch hier, einen hübschen Hügel dort, gern auch in geeigneten Kombinationen, den Rand zum meist steil abfallenden Seitenstreifen in der Art Brüsseler Spitzen kunstvoll und abwechslungsreich gestaltet. Diese Schule des kunstvollen Straßenbaus hat offensichtlich den Systemwechsel überlebt! Man findet ihre Produkte noch überall. Sie machen das Fahrradfahren, aber auch das Autofahren interessant! Zurück zum Radweg nach Zamość. Nachdem wir ihn verlassen hatten, nahmen wir einen eher unkonventionellen Weg in die Stadt, überwanden dabei erfolgreich die eher gegen die Russen als gegen uns gerichteten Befestigungsanlagen und ein paar offene Eisenbahngleise und erreichten den 100m x 100m messenden Marktplatz, laut Leo den quadratischsten Marktplatz Polens und bekamen den Mund nicht mehr zu!
Ein wunderbares Ensemble aus Renaissance und Barock, gekrönt von einem imposanten Rathaus. Interessant der Turm und die phantastische Freitreppe. Gebaut wurde diese Residenz von einem italienischen Architekten aus Padua im Auftrag der oben schon erwähnten Familie Zamoyski. Der italienische Einfluss ist unverkennbar. Leider werden einige Häuser armenischer Händler derzeit renoviert. Sie scheinen eine besonders interessante Dachgestaltung zu haben. Rund um den Platz ziehen sich Arkaden mit Geschäften, Cafes und Restaurants. Auch bei Nacht zeigte sich dieses Ensemble von seiner besten Seite. Die von uns durchquerten Gebiete an der ukrainischen Grenze bieten nicht allzu viele offensichtliche Verdienstquellen. Ein bisschen Landwirtschaft, die sich aber anscheinend nicht lohnt, wie das viele Brachland zeigt, ein bisschen Tourismus, aber nicht wirklich viel, und etwas Schmuggel mit der Ukraine. Da fragt sich der Radtourist, woher das Geld für all diese prachtvollen Neubauten kommt, die in allen Dörfern zu finden sind. Es scheint einregelrechter Wettbewerb ausgebrochen zu sein, wer baut die schönste Villa? Die Antwort ist einfach, Geldtransfer aus dem Westen. Die Erbauer gehen monatelang in den Westen, Vater klotzt auf der Baustelle ran, Mutter pflegt hinfällige Westler. Zusammen macht man in kurzer Zeit möglichst viel Geld. Dann kommen sie mit dem Geld nach hause und bauen weiter an ihrem Traumhaus. Man fragt sich, wo auf Dauer das Geld für den Lebensunterhalt oder auch nur für den Unterhalt des Hauses her kommen soll. Auf jeden Fall beschert die Bauerei einen kurzfristigen Bauboom. Es fällt auf, dass alle Dächer aus Blech sind und Ziegel imitieren. Thyssen-Krupp scheint in Polen einen guten Markt für dieses Produkt gefunden zu haben. In Zamość wurden wir samt Fahrrädern verladen und zurück nach Krakau transportiert. Das Verschwinden der früher allgegenwärtigen Lenindenkmäler und die allgegenwärtige Präsenz von Johannes-Paul-II-Statuen brachte in mir die deutsche Recycling-Kampagne, „Ich war eine Dose“ in Erinnerung.